Kerspleben. Sie heißen Julian, Tom oder auch Max. Es ist ein Mittwochnachmittag auf dem Kersplebener Sportplatz. Sie sind zu acht, mal zu zehnt, zwischen acht und zwölf. Sie rennen, dribbeln, passen und schießen frohgelaunt auf die kleinen Tore. Je nachdem, wie es der Mann abseits des Feldes geduldig und doch fordernd vorgibt.
Herr Sänger nennen ihn die Knirpse respektvoll und blicken mit großen Augen zu ihm auf. Meist dann, wenn er von Bewegungsabläufen spricht, und von Schnelligkeit in der Ballannahme und -mitnahme. "Ein paar professionelle Dinge eben", sagt der Fußballfachmann, ohne den vor den Jungs zu sehr herauszukehren. Stöberten sie in alten Erinnerungsstücken, die nicht allzu weit entfernt im Einfamilienhaus in Kerspleben liegen, sie machten wohl größere Augen zu ihrem Freizeittrainer.
Ein paar Dresse sind noch da, Medaillen, ein Schwung alter Fotos, auf denen der ranke Defensiv-Spezialist Carsten Sänger in Aktion mit den Großen der 1980er Jahre zu sehen ist. Aufbewahrt hat sie Ehefrau Heike. Auch in Erinnerung an eine Fußball-Laufbahn, die durch so knapp verpasste große Turniere oder den folgenschweren und den linken Unterschenkel kostenden Autounfall als tragisch gilt. Sie scheint unvollendet. Sie darf dennoch als bemerkenswert gesehen werden.
"Ein Fußballfest in der Feststadt", heißt es 1985, als Europameister Frankreich an jenem 11. September in Leipzig zu Gast ist und einen weiteren Schritt zur WM 1986 in Mexiko gehen will. 78.000 Besucher füllen das Zentralstadion. Sie wollen vor allem das Starensemble um Michele Platini, Alain Giresse und Jean Tigana sehen. Sie empfangen die DDR-Nationalmannschaft wegen der Spieler des ungeliebten BFC mit gellendem Pfeifkonzert. "20 Minuten wurden wir ausgepfiffen, dann aber unheimlich unterstützt", erinnert sich Carsten Sänger an eines von zahlreichen tollen Erlebnissen wie in jenem Herbst.
Der damals 22-jährige Vorstopper des FC Rot-Weiß Erfurt, der 1984 in Erfurt beim 2:1 gegen die Tschechoslowakei sein Auswahl-Debüt gibt, ist wieder in die verjüngte Nationalelf von Cheftrainer Bernd Stange gerückt. Ihr werden kaum Chancen eingerechnet. Weder im Duell gegen den Europameister noch fürs Erreichen der WM-Endrunde. Doch der Außenseiter kämpft, wächst über sich hinaus und besiegt vor begeisternder Kulisse die Franzosen 2:0.
Ein Fußball-Herbst mit goldenen Tagen
Mehr noch: Die starken Jugoslawen werden kurz darauf ebenso 2:1 geschlagen wie die Bulgaren zum Abschluss der Qualifikation. "Ein Herbst mit goldenen Tagen", heißt es. Was kaum für möglich gehalten worden ist, wird wahr. Es bleibt aber ohne Happy-End. Mit 10:6 Punkten verfehlt die DDR das Mexiko-Ticket um einen Zähler.
"Hätten sie mich mal eher wieder eingeladen", sagt Carsten Sänger - augenzwinkernd mit dem Abstand von 27 Jahren, aber mit dem gleichen Selbstbewusstsein, mit dem sich der als 17-Jähriger ins Oberligateam des FC Rot-Weiß Erfurt gerückte Stopper einst einen festen Auswahl-Platz gesichert hat. Er kommt auf 16 A-Länderspieleinsätze und auf fünf mit dem Olympia-Team. Es hat sich 1984 als letztes Land für die Spiele in Los Angeles qualifiziert, darf aber wegen des Boykotts nicht antreten.
"Ich habe es damals im Radio gehört und gedacht, ich höre nicht richtig. Wir hatten es vermutet, aber nicht für möglich gehalten", trauert Sänger noch den verpassten Spielen nach. Weit mehr als der erneut verfehlten EM-Teilnahme 1988.
Als im November 1987 in Leipzig wie schon zwei Jahre zuvor der gallische Hahn, das Maskottchen der Franzosen, ausbüchst und von den Spielern eingefangen werden muss, steht der kantige Schwarzschopf aus Erfurt nicht mehr im Aufgebot. Weil in der Familie Ausreiseanträge gestellt sind, ist er kein "Reisekader" mehr. Er könne weitermachen, wenn er den DDR-Oberen diene. Sich zu verbiegen kommt für seinen stolzen Charakter jedoch nicht in Frage. Wie in seiner gesamten Laufbahn.
Sie beginnt Ende der 1960er in Erfurt. Als Steppke und eines von fünf Geschwistern läuft Carsten Sänger von der Gneisenaustraße beinahe täglich zum Stadion, um bei Rot-Weiß zu trainieren. Und sie endet nach gut 30 Jahren und Profi-Stationen über Rostock, Jena und Sachsen Leipzig bei jenem Klub, den er immer als Herzenssache gesehen hat.
Doch auch die Jahre im Rot-Weiß-Trikot bringen Rückschläge mit sich. Ein Autounfall auf nächtlicher Heimfahrt nach Hause ist der schwerste. Die irreparable Verletzung bedeutet den Abschied von der Fußball-Bühne ohne Abschied - und zugleich einen nicht minder bemerkenswerten Neuanfang.
Er hat den heutigen Sportlehrer mit inzwischen drei Uni-Abschlüssen nach Trainerstationen (FC Nord, Dachwig) vor kurzem nun mit dem Kindertraining für den Kersplebener Verein "Move it" zurück zum Fußball geführt.
In Kooperation mit der Kersplebener Grund- und Regelschule ist es ein Training, das Kindern ab sechs offensteht, das Spaß an der Bewegung wecken und ein Fördertraining für bereits im Verein spielende Jungen und Mädchen bilden soll. "Wo man hinläuft, wie man hinläuft. Das muss man lernen, wenn man jung ist", sagt Carsten Sänger, "es ist eine gute Sache, steckt aber noch in den Kinderschuhen", gibt er sich ebenso bescheiden, wie mit seinen einstigen Erfolgen.
Tom, Julian und Max wissen, wenn überhaupt, nur einen Teil davon vom Hörensagen - und sicher auch nicht, dass Carsten Sänger heute runde 50 wird.
In einer DFB-Zeitschrift würdigte der Verband sein Doppel-Jubiläum anlässlich des Geburtstags und des nun 25 Jahre zurückliegenden letzten Einsatzes im Nationaltrikot - auf Augenhöhe mit dem nebenan abgebildeten früheren Nationalstürmer und -trainer Jürgen Klinsmann.
Herzlichen Glückwunsch!
Steffen Eß für die Thüringer Allgemeine - Erfurt vom 8. November 2012